Wie sicher können Sie ihrer Erfahrung vertrauen?
„Das kenne ich, Menschen ticken nun einmal so …“ beendete der deutsche Tourist auf dem Marktplatz von Alcalá de los Gazules in Andalusien seine Aussage. Aufhänger dieses „Urlaubs-Plausches“ waren die Rennräder gewesen, die neben unserem Tisch an einem Baum lehnten. Der Deutsche Tourist und seine Frau gönnten sich gerade eine Woche Golfurlaub in Andalusien. Heute war es aber wohl doch zu windig, um einen der zahllosen 18-Loch-Anlagen in der Region Cádiz aufzusuchen und so hatte man sich mit dem Mietwagen eines der sogenannten Weißen Dörfer anschauen wollen. Auf dem Marktplatz waren dann die italienischen Rennräder ins Auge gefallen. Man kam ins Gespräch. Deutsche möchten immer gerne wissen, was denn der Mensch „so beruflich“ macht. Und schnell war das Gespräch bei meiner Tätigkeit als Coach und seinen Managementerfahrungen und über 30jährigen Führungserfahrungsjahren angelangt.
Ich bin Coach – ich bin kein Berater, auch kein Tipp-Geber, sondern ich liebe es, wenn Menschen selbst den nächsten Schritt machen, bei denen ich sie dann sehr gerne begleite. Ich hatte keine Lust in meinem Rennradurlaub lange über das „Richtig“ und „Falsch“ zu diskutieren. Aber sein Ausspruch „Das kenne ich, Menschen ticken nun einmal so …“ hallte noch nach. Ich ging zu dem Baum, an dem mein Rennrad lehnte und pflückte eine der prallen Orangen, begann die Frucht zu schälen und reichte dem Golfspieler ein Stück. Etwas zögerlich und mit fragendem Blick nahm dieser aber kurzerhand das Stück Orange und steckte es in den Mund. Kaum drin, spuckte er es auch schon wieder aus. Ja, der Gute hatte gedacht, dass sei eine Orange. Schließlich sah es aus wie eine Orange. Es war auch eine, aber nicht so eine, die er glaubte zu kennen: Es war eine Bitterorange.
„Nichts für ungut, aber sie dachten sicherlich, Sie kennen diese Frucht – es sei eine Orange. Denken Sie mal darüber nach, wenn Sie das nächste Mal sagen, dass sie solche Situationen und die Menschen kennen“.
Erfahrung ist (über-)lebensnotwendig – aber nicht alles!
Im Allgemeinen ist unser Erfahrungswissen tatsächlich sehr wichtig. Wir haben es entweder aus Einzelfällen gebildet, sozusagen aus den am eigenen Leib gemachten Erfahrungen mit bestimmten Ereignissen, Vorkommnissen, etc., oder es handelt sich sogar über einen langfristigen „Erfahrungshintergrund“ (Lebenserfahrung, Berufserfahrung, etc.), also mehr die Gesamtheit von Erfahrungen, die eine Person über einen längeren Zeitraum gemacht hat.
Einige davon sind (über-)lebenswichtig: Irgendwann erfährt man, dass eine Kerze heiß ist, Dinge in Brand setzen kann; eine eben noch angeschaltete Herdplatte heiß ist und zu ernsthaften Verbrennungen führen kann, wenn man darauf packt. Diese Liste ließe sich noch erweitern.
Wenn Sie nach einem Dienstleister suchen, um Abhilfe für eine bestimmte Herausforderung zu erhalten, dann legen Sie wahrscheinlich auch Wert darauf, dass dieser bereits „einschlägige Erfahrung“ vorweisen kann. Wir fühlen uns gut aufgehoben, wenn wir Beweise finden für Marketing-Sätze, wie „Profitieren Sie von unserer langjährigen Erfahrung“. Auch in Stellenangeboten liest man gerne, dass der oder die ideale BewerbIn doch bitte „über profunde Erfahrungen mit komplexen Organisationsstrukturen“ verfügen soll.
Ich selbst arbeite gerne in meiner „Master-Mind-Gruppe“, einem Zusammenschluss von ExpertInnen, die sich gegenseitig nicht zuletzt durch Ihr Erfahrungs-Wissen unterstützen. Ich setze sehr gerne auch Peer-Group-Coaching, beziehungsweise die deutsche Version, die Kollegiale Beratung ein. All’ diese Werkzeuge werden sehr oft erst so richtig wertvoll aufgrund der zusammenkommenden Erfahrungen.
Ich habe es mir allerdings abgewöhnt, mich bei Allem und in jeder Situation „blind“ auf meine Erfahrung zu verlassen. Ich kenne kaum mehr jemanden, der dem Spruch „Das haben wir doch schon immer so gemacht!“ aufrichtig folgt. Nein, dann outet man sich ja gleich als jemand, der nicht veränderungsbereit ist. Unser Erfahrungswissen trübt uns da manchmal unseren Blick. Das Organgen-Beispiel war hier sicherlich ein etwas geschmacks-intensives, aber vor allem einprägsames Beispiel: Nicht immer ist es so, wie wir es kennen. Und deshalb wäre es auch gut, wir würden uns offen halten für andere Meinungen, neue Vorgehensweisen, Ausprobieren, etc. .
Erfahrung wird auch häufig mehr oder weniger realitätsadäquat verarbeitet
Unser Gehirn speichert unsere Erlebnisse, Ereignisse, Erfahrungen ab – allerdings eingefärbt durch unsere Bewertung, unsere Wahrnehmung, also einer mehr oder weniger realitätsadäquaten Verarbeitung. Durch unsere Weltanschauung, durch unsere Art, wie wir auf bestimmte Dinge „drauf schauen“, welche Glaubenssätze, Lebensmotti, Ansichten, etc. uns prägen, wird auch unser Erfahrungsschatz geprägt. Und ganz ehrlich: Nicht alle Auffassungen, die wir vertreten, basieren auf unseren eigenen Erfahrungen. Da hat man „vom Hörensagen“ über einen bestimmten Menschen, eine bestimmte Automarke, ein bestimmtes Land eher Sekundärerfahrungen erlangt und hat es doch schon ganz fest in sein Repertoire übernommen, so dass unser Unterbewusstsein kaum noch eine Unterscheidung gelingt, uns selbst jedenfalls nicht mehr.
Profitieren Sie von der Erfahrung, dass Nichts bleibt, wie es ist!
Auch eine Erfahrung, die viele von uns als Glaubenssatz haben: Nichts bleibt, wie es ist. Und wie auch immer es um den eigentlichen Wahrheitsgrad dieses Satzes steht, machen Sie ihn dochmal zum Programm: Wenn sich alles ändert, dann denken Sie doch auch mal neu.
Wir sollten immer mal wieder einen etwas tieferen Blick auf unseren Erfahrungsschatz werfen: Lohnt es sich manche Dinge, doch zu ändern, auch wenn sie (noch) funktionieren? Kann es vielleicht doch sein, dass jüngere KollegInnen ebenfalls gute Einblicke, Ideen, etc. mitbringen und es nicht immer auf die langjährigen eigenen Erfahrungen ankommt? Überprüfen Sie mal Ihre Ansichten, Ihre Glaubenssätze, Ihre Wahrnehmung: ein bestimmtes Alter ist genauso gut kein Garant für Innovationsfähigkeit!

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